Das Gespenst im Altenessener Hohlweg
Als der 30 jährige Krieg längst geendet hatte, trieb noch immer in der Essener Gegend ein alter schwedischer Landser sein Unwesen. Als wilder Räuber lebte er in den Wäldern. Wo er sich an bewohnten Orten auch sehen ließ, stets verbreitete er Ftircht und Schrecken. Was man ihm nicht freiwillig geben wollte, nahm er sich mit Gewalt. Raub, Mord und Brandstiftung hatte er sich zur Gewohnheit gemacht. Niemand war vor ihm sicher. Doch eines Tages faßten ihn die Bauern und schlugen ihn mit ihren Dreschflegeln tot; aber noch im Sterben stieß der Schwede schändliche Flüche aus. Zur Strafe für seine Untaten konnte seine Seele im Grabe keine Ruhe finden. In vielerlei Gestalt, als Werwolf Katze oder Hund, mußte er fortan ruhelos umherirren, und sein Stöhnen, Heulen, Fauchen und Fluchen war oft weithin in der nächtlichen Stille zu hören. Wer immer in der Nähe war, machte sich schleunigst davon ohne sich umzuschauen, denn Geistern ging man lieber aus dem Wege.
Ein Leineweber aus Altenessen fuhr einmal in dunkler Morgenfrühe, als weder Sterne leuchteten noch die Sonne schien, seinen Karren mit dem selbstgewebten Leinen zum Markte. Er war besonders früh aufgestanden, damit er als erster auf dem Marktplatze sei und sich den besten Stand aussuchen konnte. Sein Weg führte ihn auch durch den Altenessener Hohlweg. Dies war die Stelle, wo sich die Straße verengte und das Gebüsch über den Köpfen der Passanten fast zusammenwuchs. An diesem Ort war einst der Schwede erschlagen worden.
Als unser Leineweber sich mitten im Hohlweg befand, wurde er plötzlich von einer dumpfen Stimme dreimal angerufen: „Hooo! - Hooo! - Hooo!"
Anstatt nun den Geisterspruch zu sprechen „Alle guten Geister loben Gott!" und fortzulaufen, drehte er sich neugierig um, bohrte seine Augen suchend in die Dunkelheit und erwiderte den Ruf: „Hooo! - Hooo! - Hooo!"
Im selben Augenblick sah er im dichten Gebüsch zwei grüne Augen auffunkeln. Mehr konnte er nicht erkennen. Aber die Augen wurden immer größer und kamen immer näher! Schon wandte sich der Leineweber mit seinem Karren zur Flucht, da krallte sich eine unheimliche Last in seinem Rücken fest. Ein keuchender, stinkender Atem blies über seine Schulter und verpestete die Luft. Das Getier auf seinem Rücken riß an der Kleidung, sein Schwanz schlug ihm gegen die Beine, und er hörte Zähneknirschen, als ob jemand nur darauf lauere, ihm ins Genick zu beißen.
Den Leineweber überfiel es eiskalt. In panischer Angst schüttelte er sich, um die schreckliche Bürde loszuwerden. Aber umsonst. Wie mit eisernen Zangen umfing ihn seine Last. Schon drohte der Leineweber ohnmächtig zu werden, da raffte er noch einmal all seinen Mut zusammen, mit dem unheimlichen Getier auf seinem Rücken jagte er wie von Furien gehetzt durch die Nacht nach Essen, vor sich den schweren Wagen mit den Leinenstoffen. Niemand war zu dieser frühen Morgenstunde unterwegs und konnte ihm helfen. Nur die Tiere des Waldes sahen die wilde Jagd und stoben eilends davon.
Erst als unser Leineweber die ersten Häuser Essens erreichte und das Licht einer Laterne sichtbar wurde, faßte er wieder etwas Hoffnung. Als aber auch noch das erste Morgenläuten der Münsterkirche zu hören war, da spürte er deutlich, wie die Kraft des Gespenstes mehr und mehr nachließ, wie die Krallen sich langsam öffneten und die schwere Last allmählich von seinem Rücken herabglitt. Dann plötzlich war der Spuk verschwunden. Erschöpft klopfte der Leineweber an die Türe des nächsten Hauses, das er erreichen konnte, und bat um etwas Wasser, um sich von der unheimlichen Schrekkensfahrt zu erholen.
Nie vergaß er sein Erlebnis, und alle, denen davon erzählt wurde, vermieden es, bei Nacht durch den verwunschenen Hohlweg zu gehen.
Erst als später in der Nähe des Hohlweges Zechen und Fabriken entstanden und zahllose Wohnhäuser in die Höhe wuchsen, verschwand das Gespenst aus dem Hohlwege, da es nun die Menschen nicht mehr schrecken konnte.
(Quelle: W. Schulze, Die schönsten Sagen aus Essen) zurück